Der Traum von der naturgetreuen Wiedergabe Das "Können" einer Künstlerin oder eines Künstlers wird noch heute gern daran gemessen, in welchem Maße die Darstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dieser Wunsch nach naturgetreuer Abbildung ist seit der Renaissance (Epoche von ca. 1400-1600) bis weit in das 19. Jahrhundert hinein der Traum der abendländischen Kunst gewesen. Mit dem Zeitalter der Renaissance erwachte in den Menschen ein neuer Wirklichkeitssinn und Forschungsdrang. Man erkundete die Welt mit spektakulären Entdeckungsreisen und erforschte die im Mittelalter, unbeachtete Anatomie des Menschen. Die Künstler hatten an dieser Entwicklung besonderen Anteil. Von Leonardo da Vinci (1452-1519) ist überliefert, das er sehr genaue Studien von menschlichen Körpern anfertigte. Diese Studien waren nicht nur eine wichtige Vorarbeit, um Portraits, Figurenbilder oder schließlich Akte naturgetreu darzustellen, sie bedeuteten auch eine wissenschaftliche Pionierleistung. Diese neue geistige Haltung hatte Auswirkung auf die Kunst. Neben religiösen Bildinhalten tauchten nun auch profane, dem Leben in der Wirklichkeit zuzuordnende Bildthemen auf. So entstanden Gattungen wie die Landschaftsmalerei, die Portraitmalerei und das Stilleben (Gegenstandsmalerei) sowie Bilder von historischen Begebenheiten. Zunächst waren die Portrait-, Landschafts- und Stillebenmotive nur sehr klein und nebensächlich ins Bild gesetzt. Nach und nach wurden sie aber zu selbständigen Bildthemen. Um die Inhalte so abzubilden, wie sie in Wirklichkeit waren, brauchte man neue Farben, die dies leisten konnten. Die stumpfen Temperafarben, die bis dahin gebräuchlich waren, genügten nun nicht mehr. Mit der Erfindung der brillanteren Ölfarben war es indes möglich, weiche, transparente Übergänge zu schaffen, indem man viele Lasuren, das sind zarte Farbschichten, übereinander legte. Darüber hinaus entwickelten sich neue Arbeitsweisen. Da die Ölfarben langsam trockneten, war es möglich, lange an der Farbmodellierung zu arbeiten und viele Farbabstufungen auch in der Naß-in-Naß-Technik (alla prima) zu gestalten. Mit Hilfe dieser Farben gelang es endlich, illusionistisch, d.h. täuschend ähnlich, wie die Natur es vorgab, abzubilden. Mit der Zeit perfektionierte man die Techniken, um naturgetreue, d.h. naturalistische Bildeffekte zu erzeugen. Die wichtigsten Merkmale lassen sich in einer Liste zusammenstellen und können an Bildern aus verschiedenen Epochen überprüft werden. 1. Die dargestellten Gegenstände müssen "richtig" in den Bildraum gesetzt werden. Um dies zu können, muss man die Gesetze der Perspektive beherrschen. Mit diesem Hilfsmittel ist es möglich, eine Raumillusion zu erzeugen. 2. Um eine wirklichkeitsgetreue Wirkung von Dingen zu erzielen, muss deren Plastizität herausgearbeitet werden. Erreicht wird dies durch Körperschatten, die die Unebenheiten eines Gegenstandes hervorheben, und durch Schlagschatten, die ein Gegenstand wirft. Das erzeugt eine Körperillusion. 3. Damit ein Abbild naturalistisch erscheint, muss außerdem eine korrekte Proportionierung und anatomische Richtigkeit der Körper vorliegen. 4. Auch die farbige Richtigkeit trägt zur Wirklichkeitsillusion bei. Sie wird erreicht, wenn man die Farbigkeit der Gegenstände imitiert. Dies sind die Gegenstands- oder Lokalfarben. 5. Die Malerei darf nicht zu sehr verallgemeinern und muss zusätzlich zeichnerisch genau Details darstellen. 6. Ganz entscheidend ist die Stofflichkeitsillusion. Die Oberflächen der gemalten Gegenstände haben dieselbe optische Wirkung wie der abzubildende Gegenstand.